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Wer im Sprachunterricht sitzt und denkt, dass früher alles besser war, weil man nicht so viele Sprachen können musste, der irrt sich gewaltig. Auch früher war es sehr von Vorteil, wenn man mehrere Sprachen beherrschte, vor allem, wenn man politisch tätig werden wollte. Es verwundert daher nicht, wenn auch mehrsprachige Schriftzeugnisse gefunden werden.
Ein interessantes Beispiel ist das dreisprachige Gesprächsbuch aus dem 5./6. Jahrhundert n. Chr., welches 1906 in Ägypten erworben wurde. Es ist beidseitig beschrieben und auf jeder Seite in jeweils zwei Kolumnen aufgeteilt, die jeweils noch einmal in drei Spalten gegliedert sind. Die Spalten sind durch Doppelpunkte zwischen den Wörtern aufgeteilt. In der ersten Spalte steht Wort für Wort untereinander ein lateinischer Text, der mit griechischen Buchstaben geschrieben wurde. In der mittleren Spalte folgt die griechische Übersetzung und in der dritten Spalte die koptische Übersetzung des jeweiligen latenischen Wortes in der ersten Spalte. Diese Aufteilung erstreckt sich über den gesamten Papyrus. Man erhält so denselben Text in drei verschiedenen Sprachen in jeweils wörtlicher Übersetzung.
In den ersten 41 Zeilen geht es um Aktivitäten und Gespräche am Ende eines Gastmahls zwischen den Gästen und dem Gastgeber. Dabei geht es u.a. um Abwischen der Tische, das Aufstellen von Leuchtern, den Nachtisch und eine Einladung zur Übernachtung. Im zweiten Teil, den Zeilen 42 bis 143, wird unter der Überschrift „Alltagsgespräch“ ein kurzes Gespräch bei der Ankunft eines Boten wiedergebenen, der einen Brief bringt. In diesem Brief, dessen Inhalt präsentiert wird, beklagt sich der Absender, so lange keinen Brief vom Adressaten bekommen zu haben, und bittet um Briefe. Das Ende enthält ein Gespräch vor der Haustür.
Dieses Schriftstück ist nicht das einzige, auf dem aus der einen Sprache in eine andere übersetzt wird und dennoch ist es besonders. In lateinisch-griechischen Glossaren waren die Kolumnen viel schmaler und jede der beiden Sprachen hatte ihre eigene Kolumne und die lateinischen Wörter wurden nicht mit griechischen Buchstaben transliteriert. Die Aufteilung auf diesem Papyrus entspricht jedoch der der griechisch-koptischen Glossare, in denen die Worte durch Doppelpunkte voneinander getrennt wurden. Die Form des Inhalts ist bereits aus älteren Beispielen bekannt als „Hermeneumata Pseudodositheana“ und wurde entwickelt, um den Menschen im Römischen Reich die griechische Sprache beizubringen. Dies lässt vermuten, dass der Text ursprünglich ein lateinisch-griechischer Text war und die lateinischen Worte ursprünglich mit lateinischem Alphabet geschrieben waren.
Unklar ist der Grund, aus dem der Text entstanden ist. Da der koptische Text voller Fehler ist, während der griechische und der lateinische in deutlich besserem Zustand vorliegen, ist die Vermutung, dass ein koptischer Muttersprachler den Text geschrieben hat, nicht sehr naheliegend, was aber wiederum mehr Fragen hinsichtlich des Layouts aufkommen lässt. Es kann vermutet werden, dass dieses Schriftstück die Kopie einer Kopie ist. Zu Beginn lag ein lateinisch-griechischer Text vor, der von einem koptischen Muttersprachler abgeschrieben wurde, was erklärt, wieso eine griechisch-koptische Aufteilung gewählt wurde. Diese Kopie wurde danach vielleicht nochmals abgeschrieben – wahrscheinlich von einem Griechen mit nur geringen Kenntnissen der koptischen Sprache, wie die Fehler zeigen. Zudem würde es wenig Sinn ergeben, wenn jemand, dessen Muttersprache Latein ist, die lateinischen Worte griechisch transliteriert. Der zweite Kopist, vielleicht ein Schüler oder Student, aber keinesfalls ein professioneller Schreiber, sollte dann mittels dieser Kopie die koptische Sprache erlernen.
Obwohl unklar ist, wer oder was hinter diesem Schriftstück und seiner Form steht, ist es von großer Bedeutung, denn multilinguale Schriftstücke waren schon immer eine große Hilfe um Sprachen zu lernen, zu erforschen und auch heute noch neue Sichtweisen zu erhalten.