BKT V.2, S. 64–72 (P. 9908 R)
Ohne Navi nach Troja? Dafür benutzte man in der Antike einen Sohn des Herakles – Telephos. Er führte die Griechen nach Troja, wo sie erst nach zehn langen Jahren die Verteidiger der Stadt besiegen konnten. Der Dichter Euripides verarbeitete diesen Stoff in einer Tragödie, von der sich auf diesem Papyrus einige Zeilen erhalten haben.
Der Papyrus wurde 1903 von Otto Rubensohn für die Berliner Papyrussammlung erworben. Er ist nur ein Teil einer ehemals großen Papyrusrolle. Auf der Rückseite haben sich Reste eines astrologischen Handbuchs erhalten. Von der Tragödie des Euripides sind auf der Vorderseite dieser Rolle noch Reste von drei Kolumnen zu sehen. Während von den Kolumnen I und III nur wenige Reste vorhanden sind, ist von der zweiten Kolumne mehr als die obere Hälfte erhalten. Interessanterweise wurde dieses Fragment zunächst einer anderen Tragödie zugeordnet, nämlich der Achäerversammlung des Sophokles. Erst nach Auffinden weiterer Fragmente der Tragödie „Telephos“ gelang eine Zuweisung zu dieser Tragödie des Euripides. Aufgrund der Schrift lässt sich der Papyrus in das 2. Jahrhundert n.Chr. datieren.
Telephos ist ein Sohn des Herakles und der Auge, der Tochter von König Aleos von Tegea. Als König von Mysien bekämpfte er die Griechen, die unterwegs nach Troja versehentlich Mysien angriffen. Er besiegte sie wurde aber von Achilleus mit dessen Speer verwundet. Da seine Wunde nicht heilte und laut einem Orakel nur von demjenigen geheilt werden konnte, von dem sie auch zugefügt wurde, ging er alls Bettler verkleidet nach Argos. Dort hatten sich die Griechen für den Krieg gegen Troja versammelt. Hier hoffte er, Achilleus zu treffen, um seine Wunde zu heilen. Da dies nicht erfolgreich war, raubte er Orestes, den kleinen Sohn Agamemnons, aus der Wiege und drohte, das Kind zu töten. Der schlaue und listenreiche Odysseus kam auf die Idee, dass der Speer ihn heilen konnte. Abgeschabter Rost des Speeres, der in die Wunde gelegt wurde, heilte Telephos. Ein Orakel bestimmte ihn zum Führer der Griechen nach Troja. Telephos zeigte den Griechen den Weg dorthin, nahm aber am Krieg nicht teil. Er gründete später die Stadt Pergamon und ist auf dem berühmten Pergamonaltar zu sehen.
Aus diesem Mythos benutzt Euripides einzelne Teile für seine Tragödie „Telephos“, die 438 v.Chr. uraufgeführt in Athen wurde. Euripides ist neben Aischylos und Sophokles der jüngste der drei großen Tragödiendichter des klassischen Griechenlands. Die meisten seiner Dramen haben sich nicht erhalten. Von vielen sind nur wenige Zitate bei anderen antiken Autoren und auf Papyrus- und Pergamentfetzen überliefert. Das trifft auch auf die Tragödie „Telephos“ zu. Von dieser sind vor allem durch den Dichter Aristophanes einige Zitate erhalten, der in seiner Komödie „Acharner“ die Tragödie „Telephos“ verspottet. Unter den auf Papyrus überlieferten Fragmenten ist das hier präsentierte Stück eines der bedeutendsten Zeugnisse.
Der Text auf diesem Papyrus beginnt mit einem Chorlied, in dem der Jubel der Griechen über die Aussicht auf eine baldige und sichere Fahrt nach Troja deutlich wird. Der Chor geht davon aus, dass die Fahrt nach Troja, von günstigen Winden gefordert, glücklich und ohne weitere Verzögerung verlaufen wird. Dafür wird Telephos sorgen, der sie führen wird. Denn er ist ein Grieche aus Tegea und nach göttlichen Willen zum Führer der Griechen bestimmt – so preist ihn der Chor. Unvermittelt tritt dann Achilleus auf und beginnt ein Gespräch mit Odysseus. Achilleus hat keine Kenntnis vom bisherigen Geschehen, wundert und ärgert sich über die angebliche Untätigkeit und sinnlose Debattiersucht der anderen. Odysseus versucht ihn aber zu besänftigen.
Neben der Überlieferung eines größeren zusammenhängenden Textstückes dieser Tragödie weist dieser Papyrus noch ein weiteres interessantes Detail auf. Auf diesem Fragment sind nämlich Sprecherhinweise erhalten. So ist in der zweiten Kolumne durch die Nennung von Achilleus und Odysseus vor den einzelnen Zeilen deutlich zu erkennen, wer gerade spricht und wann der Sprecher wechselt. Von der dritten Kolumne haben sich vor allem diese Sprecherhinweise erhalten. Sie zeigen deutlich, dass das Gespräch zwischen Achilleus und Odysseus fortgesetzt wird.