SM I 10 (P. 21165)
Wir alle kennen diese belastende Situation: Alles beginnt mit einer erhöhten Temperatur, man fühlt sich schlapp, dann wird einem heiß und kalt… Das Fieber hat einen mal wieder erwischt und die Pläne für die nächsten Tage gehen den Bach runter. Wie schön wäre es da, wenn man das Fieber mit Hilfe von Magie im Handumdrehen beseitigen oder gar nicht erst daran erkranken könnte? Das dachte sich wohl auch der Schreiber dieses Zauberpapyrus. Hierbei handelt es sich nämlich um ein magisches Amulett zum Schutz einer Person namens Tuthus vor Fieber und Schüttelfrost.
Das auf das 3.–4. Jh. n. Chr. datierte Papyrusfragment stammt wahrscheinlich aus dem Faijûm, einer Großoase südwestlich von Kairo. In der Antike wurde die Gegend auch Arsinoites genannt und war eines der landwirtschaftlichen Zentren des Landes. Der Papyrus hat eine hellbraune Farbe und ist durch eine dunkle Verfärbung auf der linken Seite gekennzeichnet. Zudem ist er an allen Rändern beschädigt und wurde dreimal horizontal und siebenmal vertikal gefaltet. Dies spricht dafür, dass der Papyrus ein Päckchen bildete, welches Tuthus womöglich an einer Schnur um den Hals trug (dies war im Alten Ägypten bei Amuletten und Schutzsymbolen häufig der Fall). Die Zauberzeichen und die griechischen Zauberwörter – in großer, nach rechts geneigten Schrift – befinden sich auf dem Rekto (Vorderseite). Das Verso (Rückseite) ist unbeschrieben. Das Amulett setzt sich aus mehreren Bestandteilen zusammen:
Am oberen Rand des Papyrus lassen sich zwei parallele Zeilen mit Zauberwörtern erkennen. Bei den ersten drei Wörtern der ersten Zeile „Adonai“, „Eloai“ und „Sabaoth“ handelt es sich um hebräische Götter-, Engel- und Äonennamen. Da den Begriffen eine kraftvolle und mächtige Bedeutung zugeschrieben wurde, lassen sie sich vermehrt und oft gemeinsam auf magischen Amuletten finden.
Ähnlich ist es bei den beiden darauffolgenden Wörtern „αβλαvαϑαvαβλα“ und „ακραμμαχαμαρι“. Sie sind ebenfalls semitischen Ursprungs und wurden äußerst häufig auf magischen Texten genutzt. Bei ersterem lässt sich dies vor allem auf dessen Aufbau zurückführen. So ist αβλαvαϑαvαβλα eine Verschreibung von αβλαvαϑαvαλβα (ABLANATHANALBA). Hierbei handelt es sich um ein Palindrom, also ein Wort, welches vorwärts und rückwärts gelesen dasselbe ergibt. In Zaubertexten wurden solche Wörter, allen voran αβλαvαϑαvαλβα, häufig genutzt, denn es bestand der Glaube, dass das Rückwärtslesen von Wörtern den Zauber aufheben würde. Mit Palindromen wollte man dies verhindern und nebenbei dafür sorgen, dass der Zauber sogar weiter verstärkt wird, wenn eine Person versucht, ihn durch Rückwärtslesen zu brechen. Da αβλαvαϑαvαλβα auf Gemmen vermehrt gemeinsam mit Sonnengottheiten verwendet wurde, wird dem Wort eine solare Bedeutung zugeschrieben. Eine weitere mögliche Bedeutung von αβλαvαϑαvαλβα ist „Vater komm zu uns!“. Bedeutungen von Palindromen sind jedoch skeptisch zu betrachten, da sie in erster Linie dafür gebildet wurden, dass sie rückwärts und vorwärts gelesen dasselbe ergeben. Bei der abweichenden Schreibweise des Wortes auf dem Zauberpapyrus handelt es sich sehr wahrscheinlich um einen Fehler. Der Schreiber wird wohl kaum beabsichtigt haben, dass man den Schutzzauber aufheben kann. Eher schien ihm der Charakter des Wortes als Palindrom nicht bekannt gewesen zu sein. Dieses Phänomen ist nicht selten, weshalb αβλαvαϑαvαλβα tatsächlich sehr oft falsch geschrieben auf magischen Amuletten vorkommt.
Αβλαvαϑαvαλβα tritt häufig zusammen mit dem Wort ακραμμαχαμαρι auf (vgl. Z. 1). Ακραμμαχαμαρι (AKRAMMACHAMARI) setzt sich aus den ursprünglich verschiedenen Zauberworten ακραμμα und χαμαρι zusammen. Da das Wort oft im Zusammenhang mit der Sonne genutzt wurde, beispielsweise in einem anderen Zaubertext als Name des griechischen Sonnengottes Helios bzw. der Sonne zur dritten Stunde, wird ακραμμαχαμαρι ebenfalls eine solare Bedeutung zugeschrieben. Es wurde jedoch nicht ausschließlich in diesem Kontext verwendet und stand im allgemeineren Sinne wie viele andere Zauberwörter für Macht und Kraft. Ähnliches gilt für das erste Wort der zweiten Zeile „σεσενγερβαρφαρανγης“ (SESENGERBARPHARANGĒS), welches oft gemeinsam mit ακραμμαχαμαρι verwendet wurde.
Nach diesem Zauberwort folgen in der zweiten Zeile die sieben Vokale des griechischen Alphabets: αεηιουω. Diese sind ebenfalls geläufig für magische Texte und werden meist als die sieben klassischen Planeten gedeutet, welche alle mit dem bloßen Auge sichtbar und schon seit der Antike bekannt sind. Dabei handelt es sich um Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter und Saturn.
Nach den sieben Vokalen bediente sich der Schreiber wieder kraftvoller Wörter, um die Magie zu entfalten. Das erste Wort „Iao“ ist ein weiterer Name des Gottes der Hebräer und wurde aufgrund seiner Macht auf sehr vielen magischen griechisch-römischen Amuletten verwendet. Es lässt sich in der zweiten Zeile auch noch ein weiteres Mal finden (vorletztes Wort). Das zweite Wort „Φρη“ (PHRĒ) steht für Re also ägyptisch für „die Sonne“.
Unter den zwei Anfangszeilen befindet sich auf der linken Seite des magischen Amuletts eine Kolumne bestehend aus sechs Zeilen. Bei der ersten handelt es sich wieder um die sieben Vokale, die weiteren fünf enthalten je einen Engelnamen, welche als Schutzzauber dienen sollten. Bei den genannten Engeln handelt es sich überwiegend um Erzengel, d.h. Engel von höherem Rang. Sie sind untereinandergeschrieben in folgender Reihenfolge genannt: Uriel, Michael, Gabriel, Suriel, Raphael. Unter ihnen gilt Michael, der Erzengel mit dem höchsten Ansehen, als Engel des Friedens sowie Helfer und Beschützer des Menschen vor Gott und auf Erden. Der Erzengel Gabriel steht für Gnade, Gerechtigkeit und gilt als Bringer guter Botschaften. Raphael hat als Erzengel die Heilmacht inne, was sich auch an der Bedeutung seines Namens ,,Gott heilt“ oder „Heiler Gottes“ zeigt. Der Textverfasser vertraute auf all die genannten Kräfte der Engel und rief sie daher an, um Tuthus vor dem Fieber zu schützen.
Rechts neben der Kolumne lässt sich ein sogenannter „Uroboros“ erkennen. Dabei handelt es sich um eine Schlange, manchmal auch ein Drache, die in ihren eigenen Schwanz beißt. Uroboroi wurden sehr häufig auf Zauberpapyri des hellenistischen Ägyptens abgebildet. Das Wort setzt sich aus den griechischen Begriffen „οὐρά“ (OURA) für Schwanz und „βορός“ (BOROS) für verzehrend zusammen und bedeutet somit „Schwanzverzehrender“. Da er sich selbst verschlingt und sich gleichzeitig selbst zeugt, steht der Uroboros in erster Linie für Ewigkeit bzw. Unendlichkeit sowie als Symbol für den universellen Zyklus von Kraftverbrauch und Kraftregeneration. Somit versinnbildlicht er auch die Natur, die wiederkehrende Zeit, das Jahr sowie den Lauf der Sonne, des Mondes, des Himmels und des Universums. Autarkie ist ein weiteres Merkmal des Uroboros: Sein Körper bildet einen geschlossenen Kreis, die vollkommenste aller Formen. Er ist unabhängig von Wahrnehmung und Fortbewegung, da sich um ihn herum Nichts befindet. Zudem benötigt er keine Nahrung, da er seine eigenen Exkremente und sich selbst verzehrt. Der Kreis des Uroboros auf dem magischen Amulett ist gefüllt mit einem weiteren verbreiteten Zauberwort: „σεμεσιλαμ“ (SEMESILAM). Es erstreckt sich über zwei Zeilen und steht auf Hebräisch für ,,ewige Sonne‘‘ oder möglicherweise ,,leuchtende Sonne“. Unter diesem Wort stehen, abgetrennt durch eine Linie, ein weiteres Mal die sieben Vokale.
Ab dem Uroboros führt die Linie weiter nach rechts. Sie wird von einem Kreuz, drei S-förmigen zueinander parallelen Linien, einem geraden Strich sowie einem weiteren Kreuz geschnitten, wobei es sich um „signa magica“ handelt, was auf Latein ,,magische Zeichen“ bedeutet. Eines davon ist das sogenannte „Chnumiszeichen“ (auch Chnouphiszeichen oder Chnubiszeichen). Es setzt sich aus einer waagerechten Linie zusammen, die von drei S-förmigen Linien gekreuzt wird. Die Linien stellen hierbei Schlangen dar. Das Zeichen steht in Verbindung mit dem schlangengestaltigen Gott Chnumis sowie mit dem Nil- und Schöpfergott Chnum, welcher ebenfalls als Schlange in Erscheinung treten kann. In griechisch-römischer Zeit stand die sich häutende Schlange für Verjüngung und für das sich fortwährend erneuernde Jahr. Man stellte sich auch den Nil als Schlange vor, da dessen Flut das neue Jahr und die damit einhergehende Erneuerung einleitete. Träger von Amuletten mit Chnumisdarstellungen oder mit einem Chnumiszeichen hofften, dass die regenerierende Kraft auch auf sie übergehen und somit ihre (gesundheitlichen) Probleme beheben würde.
Die Linie mit den signa magica endet rechts in einem länglichen Oval, das mit weiteren Zauberwörtern gefüllt ist. Der Begriff in der ersten Zeile sowie das erste Wort in der dritten Zeile sind Teile einer in anderen magischen Amuletten genutzten Formel. In der mittleren Zeile lässt sich dreimal der griechische Buchstabe „Zeta“ (Ζ) erkennen, welcher von einem waagerechten Strich gekreuzt wird. Dies könnte ein Symbol des Planeten Zeus bzw. Jupiter sein.
Auf der rechten Seite befinden sich fünf Zeilen mit Zauberwörtern, welche mit einer Umrandung versehen sind. Diese hat die Form einer „Tabula ansata“. Der Begriff ist lateinisch für „Tafel mit Handhaben“ und bezeichnet eine rechteckige Inschriftentafel mit seitlichen Ansätzen, welche in der Antike beliebt war. Ihr Zweck war es, die eingefasste Schrift hervorzuheben. Die von der Tabula ansata eingefassten Wörter des Zauberpapyrus kommen so bzw. in leichter Abwandlung bereits in den ersten zwei Zeilen vor: αβλαvαϑαvαβλα, αχραμμαχαμαρι, σεσενγενβφαραγης, Iao und Sabaoth. Das erste Wort in der letzten Zeile der Tabula ansata setzt sich zusammen aus „ωρι“ (ŌRI) für „groß ist Re“, bezogen auf den altägyptischen Sonnengott, und „φερ“ (PHER), was als Anfang mehrere Zauberworte verwendet wurde.
Unterhalb der signa magica, des Ovals und der Tabula ansata befindet sich ein Gebet, welches sich an die Götter und Engel richtet und wie folgt übersetzt werden kann: „Schützt Tuthus, den Sara geboren hat, vor jedem Schüttelfrost und vor dem Fieber, sei es jeden dritten Tag, jeden vierten Tag, jeden Tag, tagtäglich, oder jeden zweiten Tag. Eloai Engel Adonias Adonaei, schütze…“. Die Zeitangaben beziehen sich nicht, wie man vielleicht denken könnte, auf den erhofften Schutz, sondern auf das Fieber. Hierbei ist wahrscheinlich das sogenannte Sumpf-/ Wechselfieber (Malaria) gemeint, welches sich in der Antike im Mittelmeerraum ausbreitete. Schon damals traten unterschiedliche Arten auf, die je nach Häufigkeit der Fieberschübe differenziert wurden. Erwähnenswert ist bei dem Gebet zudem die Nennung der Mutter. In der ägyptischen Magie war es üblich, nicht den Namen des Vaters, sondern den der Mutter nach dem des Magie-Empfängers zu nennen.
Der Zauberpapyrus ist ein sehr detailreiches und aussagekräftiges Beispiel für die magischen Amulette, welche im Alten Ägypten und während der Antike beliebt waren. Sie wurden am Körper getragen (wie unser Zauberpapyrus oft als Kette um den Hals) und sollten dem Träger Glück, Schutz und Heilung bringen. Hierfür suchte sich der Magier Hilfe bei Gottheiten, Engeln sowie weiteren Heiligen und lud das Amulett mit magischen Formeln auf. Bei unserem Amulett wird dies sehr deutlich: Der Schreiber beruft sich mehrfach auf mächtige und kraftvolle Wörter, Gottheiten und Engel, Elemente der Astronomie sowie Symbole der Regeneration und Ewigkeit, um die Magie zu entfalten und den Schutzzauber zu aktivieren. Amulette mit Zaubersprüchen gegen Fieber und Schüttelfrost waren tatsächlich sehr verbreitet. Daneben gab es auch viele für klare Sicht oder mit Liebeszaubern. Schon Neugeborenen wurden magische Amulette zum Schutz umgelegt. Sie sollten jedoch nicht nur im Diesseits, sondern auch im Jenseits schützen und wurden dafür den Toten beigesetzt. Amulette haben sich bis heute durchgesetzt und werden (vereinzelt) immer noch als Glücksbringer getragen. Daher sind antike Amulette wie dieser Zauberpapyrus von Bedeutung, denn sie lassen uns die Entwicklung und lange Tradition von magischen bzw. schützenden Amuletten belegen und nachvollziehen.