BKT IX 16 (P. 21260 V)
Der Wolf wird in Geschichten des europäischen Raums oft als räuberischer Bösewicht dargestellt. So betrügt er in „Rotkäppchen“, einer Fabel der Gebrüder Grimm, ein unschuldiges junges Mädchen, um sie gierig zu verspeisen. Doch war der Wolf schon immer ein kaltblütiger Schurke oder war er in antiker Literatur sogar ein heilbringender Held?
Der Papyrus wurde vermutlich im Faijûm, einer Großoase südwestlich von Kairo, angekauft und stammt aus dem 3. Jahrhundert nach Christus. Das Stück wurde in Griechisch verfasst und ist auf beiden Seiten beschrieben. Auf der Rekto-Seite befindet sich eine Abrechnung, die Verso-Seite offenbart jedoch einen weitaus interessanteren Inhalt: Es handelt sich um ein magisches Formular zur Vorbereitung eines Amulettes.
Die Requisiten des magischen Verfahrens werden im Laufe der sieben Zeilen aufgezählt. Man solle Lamellen nehmen, etwas mit Leinen umwickeln, eine unbekannte Zutat eines schwarzen Wolfes verwenden und schließlich etwas in einem kleinen Behältnis verwahren. Dann werde das Amulett dem Leser oft dienen. Da das Stück nur ein Fragment ist und zudem Löcher aufweist, fehlen die Zusammenhänge zwischen den Bestandteilen. Trotzdem lässt sich einiges über den überlieferten Text sagen.
Amulette kamen seit der prädynastischen Zeit des Alten Ägyptens vor und ihre Verwendung hielt von der pharaonischen Periode bis hin zu den griechisch-römischen und den christlichen Perioden an. Sie schützen den Träger vor dem Bösen, schenken ihm Gesundheit, treffen Weissagungen und begleiten Verstorbene im Jenseits. Das Umwickeln eines Amulettes mit Leinen ist dabei nicht ungewöhnlich, denn Leinen und Flachs wurden religiös als rein empfunden. Man sagte, sie stehen in Verbundenheit mit Himmel und Sonne. Deshalb wurden Leinen neben ihrer vielseitigen Verwendung als zum Beispiel Verbands- und Schreibmaterial, Kleidung oder Lampendochte auch besonders häufig im Totenkult genutzt. So waren unter anderem Mumifizierungsmaterial, Totenbeigaben oder Opfer und Kleidung der Götter aus Leinen gefertigt.
Was an der Zauberanleitung aber überaus ungewöhnlich ist, ist die Erwähnung eines schwarzen Wolfes, denn in keinem anderen griechisch-magischen Papyrus wird von einem schwarzen Wolf berichtet. Nur von einem weißen Wolf wird in einem griechisch-magischen christlichen Papyrus gesprochen, der heute in der Kölner Papyrussammlung aufbewahrt wird. Hier erscheint der weiße Wolf und heilt Zittern und Fieber von Joseph, da Joseph sein Schutzamulett trägt.
Dem Wolf wurden in der griechischen Welt vielerlei positive medizinische Effekte zugeschrieben. So heile die sonnengetrocknete Leber eines mit Feigen gemästeten Wolfes in der Verbindung mit Lorbeeren, Pfefferkörnern, Honig und Süßwein Husten, Schwindsucht, Magenschmerzen und Blähungen. Das Binden eines gesalzenen rechten Wolfsauges auf den Leib helfe gegen Wechselfieber. Das Fett des Wolfes helfe gegen Verhärtungen, zum Beispiel der Gebärmutter. Wird Wolfshaut in Alaun gegerbt und sechs Tage lang auf den betroffenen Bereich hinaufgegeben, helfe sie zudem gegen Lendenschmerzen. Sogar dem Kot des Wolfes wurde eine medizinische Wirkung zugeteilt. Wird dieser mit attischem Honig versetzt und zu Salbe weiterverarbeitet, heile er, wenn man ihn aufs Auge legt, den grauen Star.
Wie schon am Papyrus zu erkennen ist, wurden Wölfen auch magische Fähigkeiten beigemessen. Eine Wolfsschnauze am Hoftor oder ein Wolfsfellriemen am Handgelenk schütze vor Giftmord, ein angebundener Wolfsschwanz an einer Futtergrippe verhindere, dass das Tier Rinderknochen verschlucke und binde man ein Wolfszahn an ein Pferd werde es unermüdlich. Beiße ein Wolf ein Pferd, renne es zudem stärker und schneller, ein von einem Wolf gerissenes Schaf schmecke besser und obendrein erhalte die von einem Wolf getötete Beute Heilkräfte.
Trotz der vielen positiven Assoziationen des Wolfes zur Zeit der alten Griechen war dieser gleichzeitig schon damals als böses Raubtier bekannt. Er galt auch als Tier des Unglücks, so kündige sein Aufheulen drei Tage Unwetter an. Besonders aber die Begegnung mit einem Wolf mit Beute im Mund, der einem von rechts nach links den Weg absperrt, galt als beunruhigendes Omen.
Schlussendlich bleibt die genaue Anleitung für diesen Zauber und sein Nutzen für den Leser ein Geheimnis. Trotzdem wird der Betrachter somit umso mehr herausgefordert, sich mit den Rätseln des Stücks auseinanderzusetzen, sei es die vielfältige Verwendung der Leinen oder die ambivalente Rolle des Wolfes in der antiken Welt. Dieser Papyrus beweist, dass Lückenhaftigkeit eine Überlieferung nicht weniger spannend macht.