BKT III, S. 22–26 (P. 9764)
Wie soll ein Arzt und vor allem ein Chirurg ausgebildet werden? Um diese Frage geht es in diesem Fragment einer Papyrusrolle, die eine ansonsten unbekannte Abhandlung über die Didaktik der Chirurgie enthielt. Erhalten haben sich lediglich Reste von drei Kolumnen, von denen allerdings nur die zweite Kolumne so gut erhalten ist, dass man den Inhalt des Textes erschließen kann. Die Schrift lässt sich in an das Ende des 1. Jh. n.Chr. datieren. Die Rückseite enthält lediglich Spuren einer Zeile in großen, nicht entzifferbaren Schriftzügen. Ob und in welchem Zusammenhang diese mit der Abhandlung auf der Vorderseite stehen, bleibt unklar.
In der einzigen gut erhaltenen zweiten Kolumne ist eine Erörterung des namentlich genannten Arztes Archibios zu Fragen des medizinischen Unterrichts zusammenhängend erhalten. Über Archibios, seine Werke und seine Lehren ist bis auf diesen Papyrus und ein Zitat bei dem berühmten Arzt Galen nichts bekannt, doch lebte und wirkte er wohl am Beginn des 1. Jh. n.Chr. (oder kurz davor).
In den hier erhaltenen Resten seiner Erörterung wendet sich Archibios gegen die traditionelle Lehre der Chirurgie. Er kritisiert eine zu frühe Beschäftigung mit der Theorie. Im chirurgischen Unterricht werde mit theoretischen und historischen Erörterungen begonnen, anstatt direkt in die Praxis zu führen. Mit einem Hinweis auf den ersten Satz des ersten Aphorismus des Hippokrates („Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang“ – von Cicero später ins Lateinische übersetzt: „Vita brevis, ars longa“) wünscht sich Archibios stattdessen eine praktischere Ausbildung und insbesondere eine Hinwendung zur chirurgischen Praxis. Er wünscht sich, dass die Krankheiten, bei denen eine chirurgische Behandlung erforderlich ist, erklärt und die notwendigen Handgriffe eingeübt werden. Nach seiner Meinung ist es absurd, wenn die Definitionen der einzelnen Krankheiten vernachlässigt und stattdessen eine Definition der Chirurgie, ihrer Ursprünge, Geschichte und Vorteile gesucht werden. Vielmehr ist es sinnvoller, wenn diese Fragen aufgeschoben werden und stattdessen die Lehrsätze der Chirurgie praktisch umgesetzt und ausgeführt werden. Leider ist das Ende dieser Spalte unvollständig, so dass auch diese Erörterungen fragmentarisch bleiben.
Die Ausführungen des Archibios werden vom Autor dieses Textes zitiert oder inhaltlich referiert. Leider ist zu wenig erhalten, um die Frage eindeutig zu beantworten. Ebenso wenig lässt sich ausmachen, ob er diese Ansichten des Archibios zustimmend oder ablehnend besprochen hat. Insofern kann auch der Charakter dieses Werkes eines unbekannten Autors nicht mehr eindeutig bestimmt werden. Es könnte sich um eine Biographie des Archibios gehandelt haben, in der auch seine medizinischen und didaktischen Ansichten behandelt werden. Wahrscheinlicher ist aber, dass wir es mit einem wissenschaftlichen Werk zu tun haben, in dem unterschiedliche Ansichten über die Didaktik der Chirurgie bzw. sogar der Medizin im Allgemeinen diskutiert werden.
Dieses Fragment einer Papyrusrolle gewährt somit Einblicke in den medizinischen Unterricht der Antike. Es ist zudem ein wunderbares Beispiel für die erhebliche Erweiterung, die unser Wissen über die antike Medizin der Griechen und Römer durch die Papyrusfunde aus den Abfallhaufen des griechisch-römischen Ägypten erfahren hat. Ergänzt werden sie durch archäologische Studien, die uns nicht nur viel Neues über Krankheiten in der antiken Mittelmeerwelt zeigen, sondern auch medizinische Instrumente, die benutzt worden sind, um mitunter auch komplizierte Eingriffe vorzunehmen.
Dieser Papyrus über die Didaktik der Chirurgie war in der Ausstellung „Au temps de Galien. Un médicin grec dans l’empire romain“ im Musée royal de Mariemont in Morlanwelz in Belgien zu sehen.