Heroen ganz menschlich – der Ninos-Roman

P. 6926 R

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Bilder einer Liebesgeschichte – diese beiden Fragmente geben bruchstückartig Einblick in zwei verschiedene Szenen eines griechischen Romans – des ältesten überlieferten seiner Gattung. Wer der Autor dieser Zeilen ist, lässt sich nicht mehr eindeutig ermitteln. Aufgrund von Abrechnungsnotizen auf der Rückseite der ursprünglich zu einer Schriftrolle gehörenden Papyri, die mit einer Datumsangabe um 100 bis 101 n. Chr. versehen sind, kann zumindest jedoch festgestellt werden, dass die Niederschrift des Romans einige Zeit vorher erfolgt sein muss – lang genug, damit die Rückseite des Romans schließlich als Notizzettel verwendet wurde.

Auf Fragment A sind 5 Kolumnen erhalten, von denen die erste und letzte jeweils nur zur Hälfte überdauert haben; die vorletzte ist im unteren Bereich von einer großen Lücke durchsetzt. Ähnlich sind auch die äußeren der drei Kolumnen von Fragment B nicht vollständig. Jede Kolumne umfasst zumeist 38 Zeilen. Die Schrift stammt in beiden Fällen von demselben Schreiber.

Ob Fragment A in der erzählten Handlung der von B vorausgeht beziehungsweise in welcher Reihenfolge die Fragmente überhaupt anzuordnen sind, darüber scheiden sich bisher die Geister. Ersteres erzählt von Ninos und Semiramis, einem jungen Liebespaar von siebzehn und dreizehn Jahren. Wegen des bevorstehenden Militäreinsatzes des jungen Mannes drängen die beiden auf eine baldige Hochzeit, obwohl das Mädchen der Tradition gemäß erst zwei Jahre später verheiratet werden dürfte. Um ihr Vorhaben durchzusetzen, wenden sie sich jeweils an die Mutter des beziehungsweise der anderen. Während Ninos seine Argumente souverän vorträgt, bekommt das Mädchen vor Aufregung kein Wort heraus, sondern ist in Tränen aufgelöst. Dabei sind die Mütter der Sache keineswegs abgeneigt. Ein Klärungsgespräch wird beschlossen – an dieser Stelle, an der die Spannungskurve nun steigt, bricht der Papyrus allerdings ab. Fragment B zeigt Ninos mitten während eines Feldzugs, wie er mit einem gewaltigen Heer nach Armenien zieht und dort kurz vor der Entscheidungsschlacht eine Rede zum Ansporn seiner Männer hält.

Ninos und Semiramis – das sind Namen, die weniger aus einem Roman, sondern vielmehr aus der Mythologie bekannt sind: Ninos (auch unter der Namensform Nimrod vorkommend) als Gründer der Stadt Ninive und Großkönig über nahezu ganz Vorderasien, der seinem Statthalter Onnes die Frau, nämlich Semiramis, wegnimmt und selbst heiratet. Sie wiederum erscheint in der Sage als tatkräftige Frau göttlicher Abstammung, die weitere Gebiete Asiens erobert und Ninos völlig unter ihrer Kontrolle hat – das genaue Gegenteil also zu dem weinenden Mädchen im Roman auf dem Papyrus. Auch Ninos trägt dort weniger die Charakterzüge eines rücksichtslosen Haudegens, sondern eines Tugendhelden, wie es damals für einen Roman erforderlich war.

Die Papyrusfragmente des Ninos-Romans zeigen daher auf interessante Weise, wie mythische Geschichten unter der Feder von Autoren umgearbeitet und unter Beibehaltung des Grundgerüsts der Erzählung zum Teil völlig neu gestaltet und rezipiert werden konnten. Zugleich wird dabei auch ein Wandel in der Literaturgeschichte greifbar: Von den Heldensagen und dem Übermenschentum älterer Zeiten werden die Protagonisten im Laufe der Zeit zunehmend dem Milieu der Normalsterblichen angepasst und damit gewissermaßen entmythologisiert. Die Gattung des Romans erfreute sich dann in der römischen Kaiserzeit auch besonderer Beliebtheit.

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