BGU I 15 Kol. II (P. 6865 Kol. II)
Im Alten Ägypten hatte der Esel lediglich als Nutztier eine wichtige Rolle, zu einem heiligen Tier brachte er es nie. Wohl eher war er ein gequältes Tier, welches schwere Lasten auf sich nehmen musste, vor allem im ägyptischen Getreidetransport. Dass dieser nicht nur wortwörtlich für die Esel, sondern auch für die Eseltreiber eine große Last darstellen konnte, wird durch die zweite Kolumne des vorliegenden Papyrusfragments deutlich.
Das Fragment stammt aus dem Faijûm, einer Großoase südwestlich von Kairo. In der Antike wurde die Gegend auch Arsinoites genannt und war eines der landwirtschaftlichen Zentren des Landes. Der Papyrus hat eine hellbraune Farbe und war Teil einer Rolle. Das Verso (Rückseite) ist unbeschrieben. Auf dem Rekto (Vorderseite) befinden sich zwei Kolumnen mit je einem griechischen Text. Die zwei Kolumnen sind Teil eines Registers, stammen jedoch von unterschiedlichen Verfassern. Beide Kolumnen sind Abschriften von Einträgen aus Amtstagebüchern. Im Alten Ägyptens waren Verwaltungsbeamte dazu verpflichtet, täglich ein amtliches Tagebuch zu führen. Hierbei handelte es sich meist um einen knappen Bericht ihres Sekretärs, welchen sie dann mit einer Unterschrift beglaubigten. Nach Bedarf wurden bestimmten Abschnitten des Tagebuchs abgeschrieben.
Die Kolumne II lässt sich auf den 11. Juli 197 n. Chr. datieren und somit in die römische Periode Ägyptens einordnen. Bei der Kolumne handelt es sich um eine 27-zeilige Abschrift eines Briefes, welcher einen Erlass enthält. Hierbei richtet sich der praefectus Aegypti (der römische Statthalter) Aemilius Saturninus an die Strategen des Arsinoites und der sogenannten Heptanomia (die sieben mittelägyptischen Bezirke). Er kritisiert die schlechte Organisation des staatlichen Getreidetransports und macht die geringe Anzahl der Transporteure verantwortlich. Auf seinen mehrfachen Befehl hin hätten die Strategen die vorgeschriebene Anzahl an Eseltreibern angestellt, es jedoch toleriert, dass diese sich nicht an die Mindestanzahl von drei Eseln pro Treiber hielten. Trotzdem erhielten die Eseltreiber Unterhaltskosten für drei Tiere. Dies wirke sich nicht nur negativ auf die Getreidelieferung, sondern auch auf die Staatskasse aus. Daher fordert der Präfekt die Strategen dazu auf, die Eseltreiber zum Halten von drei Eseln zu zwingen und die Esel mit Stempeln zu markieren, um die Anzahl stets überprüfen zu können.
Im römischen Ägypten war der Getreidetransport eine der wichtigsten staatlichen Aufgaben und hing eng mit dem Steuersystem zusammen. Um den flüssigen Ablauf des Transports zu gewährleisten, musste der Staat die Zahl der Transporteure und Transport-Esel stets im Blick behalten. Im Fall unseres Textes führte jedoch eine illegale Vereinbarung zwischen den Eseltreibern und den Strategen dazu, dass letztere den Betrug der Eseltreiber duldeten. Die Motivation der Strategen wird in dem Text nicht genauer erwähnt. Vermutlich erhielten sie von den Eseltreibern einen Anteil der „überschüssigen“ Unterhaltskosten.
Neben den Strategen und den Transporteuren hatten sogenannte „Sitologen“ eine zentrale Rolle im Getreidetransport. Sie waren die leitenden Beamten der Getreidespeicher, trieben von den Bauern Getreide als Sachsteuer ein und kümmerten sich um dessen Lagerung. Das Korn wurde dann von ihnen als Saatgut-Darlehen an Bauern verteilt oder über schiffbare Kanäle und den Nil zu Häfen befördert. Von dort aus wurde es weitertransportiert, um zentrale Städte Ägyptens, vor allem Alexandria und Memphis, sowie das Militär, die Steinbrüche und Minen der östlichen Wüste zu versorgen. Meist war ein Landtransport unumgänglich, da sich die Getreidespeicher nur in wenigen Fällen direkt in der Nähe von schiffbaren Kanälen befanden. Besonders beim Getreidetransport des fruchtbaren Faijûms war man auf den Landtransport angewiesen, denn es befand und befindet sich auch heute noch weit entfernt vom Nil. Für den Landtransport des Getreides wurden überwiegend Esel und vereinzelt Kamele genutzt. Gegenüber Kamelen hatten Esel den Vorteil, dass sie physiologisch nicht nur für Wüsten-, sondern auch für Oasentransporte, wie z. B. im Faijûm, geeignet waren. Außerdem kosteten sie weniger.
Der Getreidetransport mithilfe von Tieren war für das römische Ägypten mit nicht gerade wenig Aufwand verbunden, da man sich um die Haltung und Beaufsichtigung der Transporttiere kümmern musste. Daher wurde diese staatliche Aufgabe spätestens im 2. Jh. n. Chr. auf die ägyptische Bevölkerung übertragen und wurde damit zu einer sogenannten Liturgie. Die Liturgie bezeichnete ursprünglich die Dienstleistungen, welche vermögende Bürger dem antiken griechischen Gemeinwesen erbrachten. Man war darauf angewiesen, da die Staatseinnahmen alleine nicht ausreichten. Anfangs war die Liturgie nicht verpflichtend, wurden jedoch schnell als moralische Verpflichtung aufgefasst. Vor allem im 2. Jh. n. Chr. fungierte sie als Zwangsleistung.
Die Liturgie, welche die Tiere für den Getreidetransport betraf, wurde als „τριονία ὀνηλασία“ bezeichnet. Durch diese Liturgie konnten Tiere von Bewohnern aus Dörfern der sogenannten Chora (ländliches Ägypten) zum einjährigen Staatsdienst eingezogen werden. Nur Personen mit ausreichend Eigentum (anfangs 1200 Drachmen, später 2000) konnten zur Liturgie herangezogen werden und wurden von den Dorfschreibern vorgeschlagen. Daraufhin versammelten sich die Liturgen mit ihren Tieren an einem bestimmten Ort, wo ihnen ihre Transportaufgabe zugeteilt wurde. Für den Getreidetransport wurden die Liturgen üblicherweise in ihrem Heimatdorf eingesetzt, je nach Bedarf wurden die Tiere jedoch auch oft in anderen Dörfern und Bezirken eingesetzt. Dies betraf vor allem den Faijûm, so kamen 38% der Esel für den dortigen Getreidetransport aus anderen Bezirken. Nach einem Transport zu einem anderen Bezirk wurden die Esel dafür genutzt, weitere Güter zu verschiedenen Orten entlang ihres Rückwegs zu transportieren. Dies nahm oft viel Zeit in Anspruch, da das Transportgut auf andere Transportmittel umgeladen werden musste oder andere Güter zugeladen wurden.
Die Esel, die durch die Liturgie zum Getreidetransport verpflichtet wurden, waren Teil eines festen Transportkorps. Wenn der Transport von diesen „öffentlichen“ Eseln nicht alleine bewältigt werden konnte, rief der Staat andere Tierhalter dazu auf, dass sie ihm ihre Esel als Unterstützung zur Verfügung stellten. Diese „privaten“ Esel kamen tatsächlich bei vielen Transporten zum Einsatz, in der Regel jedoch nur in ihrem Heimatort. In sehr seltenen Fällen wurden auch gemietete Esel für den Getreidetransport eingesetzt.
Nach den Bestimmungen der Liturgie mussten die Liturgen dem Staat mindesten drei Esel bereitstellen. Dieses Ideal konnte jedoch nur in wenigen Fällen erfüllt werden. Ein Eseltreiber mit zwei bis drei Tieren wurde im 2. Jh. n. Chr. pro Tag mit rund zwei Drachmen oder in Form von Sachleistungen von den Sitologen entschädigt. Zudem wurden die anfallenden Kosten des Transports und Kosten für den Unterhalt der Esel, z.B. für Heu und Futter, vom Staat übernommen. Neben der Bezahlung kamen den Liturgen möglicherweise noch weitere Privilegien zu, wie zum Beispiel die Steuerbefreiung für den Esel oder ein Monopolrecht für den Transport privater Güter. Trotz der Vergütung stellte die Liturgie für Betroffene jedoch meist eine große Belastung dar. Oft mussten die Eseltreiber eine lange Heimreise auf sich nehmen und wurden für den Transport nicht ausreichend entschädigt. Um die Belastung zu minimieren, konnten sich in manchen Fällen mehrere Personen die Verantwortung für die drei Esel teilen. Zudem gab es einige Fälle, in denen die Liturgen versuchten, die Verpflichtungen der Liturgie zu umgehen. Neben der Missachtung der Esel-Mindestanzahl und der Unterhaltskostenunterschlagung wie in diesem Text sind auch Fälle belegt, in denen die Liturgen sogar mit ihren Eseln von der Einsatzstelle flüchteten. Manche Liturgen versuchten jedoch auch, auf legalem Wege gegen ihre Ernennung zur Liturgie vorzugehen. Ein Bespiel hierfür ist die erste Kolumne unseres Papyrusfragments. Die Kolumne ist eine Abschrift von einem Eintrag eines Amtstagebuchs. Der Text lässt sich auf den 26. Juli 194 n. Chr. datieren. Behandelt wird darin eine Gerichtsverhandlung, in der eine Person dagegen klagt, dass sie gleichzeitig zwei Liturgien in zwei unterschiedlichen Dörfern zugewiesen wurde.
Liturgien entsprachen sehr dem römischen Prinzip, möglichst viele staatliche Aufgaben auf die Population in den Provinzen und auf das Individuum zu übertragen. Sowohl Kolumne I als auch Kolumne II des Papyrusfragments liefern uns wichtige Informationen zu Liturgien in der römischen Periode Ägyptens. Kolumne II liefert hierbei einen konkreten Beleg dafür, dass ausgewählte Individuen dem Staat für ein Jahr mindestens drei Esel für den Getreidetransport bereitstellen mussten. Zudem zeigen uns Kolumne I und II deutlich, dass einige zur Liturgie ernannte Personen nicht bereit waren, die damit einhergehende Last zu tragen.