BKT I, S. 4–73 (P. 9780 R)
Ein umfangreicher und gut erhaltener Papyrus mit den einzigen überlieferten Texten zweier bekannter antiker Gelehrter, von denen wir sonst nur kurze Fragmente und Zitate haben. Zudem ein faszinierender Einblick, wie ein antiker philologischer Kommentar aufgebaut war und genutzt wurde.
Dieser Papyrus mit dem Kommentar des hellenistischen Universalgelehrten Didymos zu Reden des attischen Redners Demosthenes ist nicht nur durch seine Größe beeindruckend, sondern hat auch ein paar Überraschungen parat. Angekauft wurde er im Dezember 1901, noch in der Frühphase des deutschen Papyruskartells, in Kairo von Ludwig Borchardt (als Architekt, Ägyptologe und Diplomat ebenfalls ein Universalgelehrter, der als Archäologe 1912 die Nofrete-Büste fand). Woher der Papyrus genau kommt, lässt sich nicht mehr so richtig ermitteln — angeblich wurde er in den Ruinen von Hermupolis/Eshmunen gefunden.
Dass wir hier einen großen Teil einer Papyrusrolle haben, sieht man ganz gut an den symmetrischen Schadstellen — von links (außen) nach rechts (innen in der Rolle) haben sich wohl Insekten durchgefressen, weswegen der Text zum Ende hin immer besser erhalten ist. Gleich auf beiden Seiten enthält der Papyrus literarische Texte von Autoren, zu denen wir sonst herzlich wenig haben — auf der Rückseite (Verso) einen philosophischen Text des stoischen Philosophen Hierokles, hier auf der Vorderseite (Rekto) einen Kommentar des alexandrinischen Gelehrten Didymos zu vier Reden des Demosthenes. Der gilt als einer der großen attischen Redner, er hat Mitte des 4. Jahrhunderts vor Christus in Athen Reden gehalten, viele davon an seine Athener Mitbürger gegen Philipp, den Vater von Alexander dem Großen, der damals als mazedonischer König langsam, aber sicher große Teile Griechenlands in seine Hand brachte. Didymos wiederum lebte in Alexandrien im 1. Jahrhundert vor Christus, unser Papyrus wurde im 2. oder 3. Jahrhundert nach Christus geschrieben. Didymos hatte in der Antike den Spitznamen “Chalkenteros”, “Der mit den bronzenen Eingeweiden”, weil er unfassbar viel geschrieben haben muss, angeblich 3.500 bis 4.000 Werke, von denen bis auf Zitate bei anderen Autoren im Wesentlichen nur unser Papyrus überliefert ist.
Woher wissen wir, dass es der Text von Didymos war, wenn wir sonst von ihm kaum etwas erhalten haben? Anders als bei modernen Büchern finden wir den “Titel” am Ende der Rolle, auf unserem Papyrus in der letzten Spalte rechts “Didymos, über Demosthenes’ Philippika-Reden”. Trotz der räumlichen Distanz von Athen nach Ägypten und der zeitlichen von einem halben Jahrtausend war jemanden in Ägypten immer noch sehr interessiert an Demosthenes!
Das Layout ist fast modern mit Text, der in mehreren Spalten geschrieben ist, wobei Zitate des Demosthenes immer etwas nach links eingerückt sind bzw. Didymos’ Kommentar zu ihm zwei oder drei Buchstaben nach rechts. Die Spalten haben Inhaltsangaben (ein bis vier Zeilen in etwas größerer Schrift) zu dem Thema, das in der jeweiligen Spalte neu angefangen wird.
Die Hand ist, anders als bei vielen anderen literarischen Texten, die oft von professionellen Kopisten für den “Buch”handel geschrieben wurden, zwar gut lesbar, aber auch teilweise unprofessionell, mit vielen Verbesserungen. Der Kopist schreibt viele Buchstaben mal so, mal so, benutzt eine Mischung aus kursiven und kapitalen Buchstaben, beginnt ein System, z.B. Zitate zu markieren, folgt ihm aber dann nicht konsequent. Wahrscheinlich hat jemand eine Kopie von Didymos für den eigenen Gebrauch gemacht. Lustigerweise finden sich im Text typische Fehler vom Abschreiben eines anderen Texts (z.B. die Buchstabenfolge λι wird als ν geschrieben) neben Fehlern, die beim Kopieren nach Diktat auftauchen, wo im Papyrus etwas steht, was sich im 2./3. Jahrhundert nach Christus, als unser Papyrus geschrieben wurde, gleich angehört haben muss wie das, was im Text steht, aus dem sein Kopisten-Partner ihm vorgelesen hat — so, wie wir heute vermuten würden, wenn wir “Nilschwämme” lesen, dass da ursprünglich wohl mal “Nilschwemme” gestanden haben muss. Und noch eine Auffälligkeit, die bis heute noch nicht gut erklärt wurde: In Spalte 8 (das ist die dritte von links in der Abbildung) sind unten etwa zehn Zeilen unbeschrieben gelassen, wo man im Text eigentlich ein Zitat erwarten würde. Fehlte es schon im Papyrus, der kopiert wurde (aber warum hat man dann nicht den kostbaren Platz gespart und gleich weitergeschrieben)? Oder hatte der Kopist Zugang noch zu einer anderen Kopie von Didymos und wollte daraus das Zitat abschreiben?
Bevor dieser Papyrus in der Fachwelt auftauchte, hatte die Forschung ein sehr gemischtes Bild von Didymos, das aber mangels erhaltener Texte von ihm weitgehend auf den (Vor-)Urteilen seiner antiken Kollegen basierte. So hielt man Didymos eher für einen wenig orignellen Abschreiber und Schnellschreiber mit vielen Flüchtigkeitsfehlern (oder sprach hier der Neid über den sehr produktiven Didymos?). Obwohl antike Kommentare bekannt waren, kannte man nur solche zur Dichtung, und auch die aus deutlich späterer Zeit, z.B. Servius zu Vergil um 400 n. Chr.. Mit Didymos’ Kommentar zu Demosthenes Prosa-Reden gab es erstmals die Gelegenheit, mit eigenen Augen zu sehen, ob diese Vorurteile über Didymos stimmten und wie antike Forscher Kommentare schrieben. Auch heutige Literaturwissenschaftler benutzen noch das Format, das ihre Vorgänger in Alexandria vor 2200 Jahren etabliert haben: Man geht den kommentierten Text Stelle für Stelle linear durch, erklärt Sprachliches (was bedeutet ein Wort, woher kommt es, wo wird es noch verwendet, ist der überlieferte Text ein echter Demosthenes?) oder Historisches (auf welche Fakten oder Ereignisse bezieht sich der Text?). Und anders als erwartet gibt Didymos sehr oft ausführlich Zitate anderer Autoren wieder und nennt diese namentlich, geht auf unterschiedliche Meinungen ein und wägt ab. Daher bietet uns dieser Papyrus nicht nur einen Einblick, wie antike Philologen arbeiten und was ein Lesepublikum in Mittelägypten interessiert, sondern er stellt nach zweitausend Jahren auch den Ruf des produktiven alexandrinischen Gelehrten wieder einigermaßen her.