BGU I 229 (P. 7318)
Jeder kennt das doch: Man steht vor einer schwierigen Entscheidung oder einer dringlichen Frage und weiß einfach nicht mehr weiter. Da wäre es doch äußerst praktisch, wenn man jemanden fragen könnte, der einem eine direkte Antwort liefert. Genau das taten die Menschen in der Antike, wenn sie Orakel befragten. Zwei interessante Beispiele für solch eine Orakelanfrage finden sich in der Berliner Papyrussammlung.
Die beiden Dokumente stammen vermutlich aus Soknopaiu Nesos im Faijûm, einer Großoase südwestlich von Kairo, und gehörten vorerst zur Privatsammlung von Heinrich Brugsch, wurden dann jedoch 1891 von der Berliner Papyrussammlung erworben. Sie lassen sich aufgrund der Schrift in das erste Jahrhundert oder das zweite beziehungsweise dritte Jahrhundert nach Christus datieren und wurden auf Papyrus geschrieben. Beide Dokumente umfassen vier Zeilen und sind in griechischer Sprache verfasst. Sie sind auf dem Rekto (Vorderseite) parallel zu den Fasern beschrieben und zeigen keine zusätzliche Beschriftung auf dem Verso (Rückseite).
Der Inhalt der Orakelanfragen ist identisch. Der kranke Stotoetis fragt die Götter Soknopaios und Sokonpieios, ob er wieder gesund wird. Das Griechisch wirkt eher unbeholfen und ebenfalls fällt auf, dass Stotoetis sehr genau identifiziert wird, da der Name seines Vaters sowie seines Großvaters hinzugefügt wurde. Diese genaue Identifikation wurde wahrscheinlich zur Vermeidung einer Verwechslung mit Gleichnamigen gewählt, da zu dieser Zeit keine Nachnamen genutzt wurden, die die Identifikation erleichterten. Somit brauchte der um Hilfe gebetene Gott eine nähere Beschreibung der betroffenen Person.
Die Befragung eines Orakels war eine gängige Methode zum Fällen von Entscheidungen oder zur Beantwortung von Fragen im alten Ägypten. Sie bezog sich jedoch nur auf solche Fragen, die mit einem klaren Ja oder Nein beantwortet werden konnten. Es wurden Fragen zu den verschiedensten Themen gestellt, meist jedoch bezogen auf Krankheiten oder das Privatleben, aber auch zur Beantwortung von rechtlichen Fragen.
Normalerweise wurden bei einer Orakelanfrage zwei Versionen der Frage eingereicht, eine positive und eine negative, woraufhin der Betroffene die zutreffende Antwort zurückerhielt. Aber warum gibt es nun zwei nahezu identische Exemplare der Orakelfrage, beides positive Fassungen? Es könnte verschieden Gründe dafür geben:
So könnten aufgrund der Dringlichkeit des Anliegens in kurzem Abstand zwei Anfragen eingereicht worden sein. Ebenfalls könnte man erwägen, dass Stotoetis die Götter auf irgendeine Weise austricksen wollte, in dem er keine negative Fassung beilegte, um den Göttern nur die Möglichkeit seiner Genesung zu bieten und somit sein Schicksal zu beeinflussen. Ein bloßes Schreibversehen lässt sich jedoch ebenfalls nicht ausschließen.
Die beiden Papyri sind zwei Beispiele für Anfragen an Orakel, welche für Entscheidungen oder dringliche Fragen im alten Ägypten gerne zur Hilfe gezogen wurden. Was es mit den zwei gleichlautenden Versionen auf sich hat, lässt sich nur vermuten. Inwiefern die beiden Papyri zusammenhängen und ob es sich um eine absichtliche Doppelung handelt, bleibt also weiterhin ein Rätsel.