Philosophischer Traktat

BKT II, S. 52–53 (P. 9809 R)

Scan

Was hat eine gute Rede mit Lust und Liebe zu tun? In diesem philosophischen Traktat geht es offenbar um einige Prinzipien, wie gute Reden zu halten sind. Dazu werden Zitate aus zwei Dialogen des griechischen Philosophen Platon verwendet, in denen diese Prinzipien am Beispiel der Themen Lust und Liebe erklärt werden.

Dieser Papyrus wurde am 28. Februar 1902 während der Ausgrabung von Otto Rubensohn in Batn el-Harit, dem antiken Theadelpheia gefunden und gelangte kurz darauf in die Berliner Papyrussammlung. Der Ort liegt im Faijum, einer großen Oase südwestlich von Kairo, in der sehr viele antike Papyri gefunden wurden. Auf dem Papyrus haben sich Reste von zwei Kolumnen eines Textes erhalten, von denen jeweils der obere Teil fehlt. Von den 18 Zeilen der ersten Kolumne sind noch Zeilenenden mit etwa einem Drittel des Textes vorhanden. Die erhaltenen Zeilen der zweiten Kolumne sind nahezu vollständig. Der Text lässt sich aufgrund der Schrift und der Buchstabenformen in das 2. Jh. n.Chr. datieren. Er ist in griechischer Sprache verfasst wie die meisten Papyri aus dieser Zeit.

Der Text ist ein philosophischer Traktat mit ausführlichen Zitaten aus Schriften des griechischen Philosophen Platon. Diese Zitate sind deutlich durch eine Diple (Doppelhaken) vor den Zeilen gekennzeichnet, wie man sie vor den meisten Zeilen der zweiten Kolumne sehen kann. Zusätzlich wurde vor und nach dem Zitat am Zeilenanfang noch ein kurzer waagerechter Strich über bzw. unter die Zeile gesetzt. Dieser Strich heißt Paragraphos. Die erste Kolumne, deren erhaltener Teil vollständig aus einem Zitat besteht, hatte wahrscheinlich die gleichen Markierungen. Doch fehlen die Zeilenanfänge.

In der ersten Kolumne wird eine Passage aus dem platonischen Dialog „Philebos“ zitiert. In diesem Dialog diskutiert Platons Lehrer Sokrates mit den jungen Athenern Philebos und Protarchos über die ethische Bewertung der Lust. Während Philebos und Protarchos die Lust als den höchsten Wert betrachten und sie mit dem Guten gleichsetzen, haben für Sokrates Vernunft und Einsicht den Vorrang. Im zitierten Teil des Dialogs diskutieren sie das Verhältnis von Einheit und Vielheit, da ja auch die Lüste einerseits vielfältig und verschiedenartig sind, andererseits doch eine Einheit bilden und unter einem gemeinsamen Begriff zusammengefasst werden. Sokrates betont in dem Zitat, dass der Bereich zwischen der Einheitlichkeit des Einen und der Grenzenlosigkeit der Vielheit genau zu betrachten sei, um die Wirklichkeit richtig zu erforschen.

In der zweiten Kolumne wird eine Passage aus dem platonischen Dialog „Phaidros“ zitiert. In diesem Dialog diskutiert Sokrates mit seinem Freund Phaidros über die Kunst des Redens im Verhältnis von rhetorischer Überzeugungskraft und philosophischer Wahrheitsfindung. Als Beispiel dient eine Rede des athenischen Redners Lysias über die Liebe und eine Gegenrede des Sokrates zu diesem Thema. Im zitierten Teil des Dialogs geht es um zwei in beiden Reden enthaltene Prinzipien: einerseits, vielfach Zerstreutes in einer Idee zusammenzufassen, um den Gegenstand deutlich zu machen, über den geredet wird; andererseits, eine Idee auch wieder in einzelne Begriffe zerlegen.

Über den Zweck und den Inhalt des Traktats kann man aufgrund der wenigen erhaltenen Reste nur einige Vermutungen anstellen. Beiden erhaltenen Zitaten gemeinsam ist die Idee einer dialektischen Analyse eines Gegenstands – Lust im „Philebos“, Liebe im „Phaidros“ – um die Wahrheit zu erkennen und zu vermitteln. Wer diesen Papyrustext verfasst hat, ist unbekannt. Es ist möglich, dass er in einem Schulkontext verwendet wurde.

Einige Zeit später – höchsten 100 Jahre – hatte man aber offenbar kein Interesse mehr an diesem Text und verwendete die Rückseite des wertvollen Schreibmaterials Papyrus für einen Brief. Dafür wurde das erhaltene Blatt aus einer Rolle herausgeschnitten und wiederverwendet.

Dieser Beitrag wurde unter Stück des Monats abgelegt. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Bitte hinterlassen Sie uns eine Nachricht:

* erforderlich

*