BKT V.2, S. 84–87 (P. 5514)
Eine selten überlieferte Tragödie von Euripides. Die Tragödie ist heutzutage nur noch fragmentarisch erhalten. Insgesamt gibt es von dieser Tragödie weniger als 10 Fragmente. Auf diesem hier präsentierten Pergament steht das größte zusammenhängende Stück der Tragödie, den wir heute kennen. Die Tragödie: die gefesselte Melanippe.
Das Pergament wurde im Faijum erworben. Daher kann man mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass das Stück auch im Faijum gefunden wurde. Es kam 1879 in die Berliner Papyrussammlung und ist heute im Neuen Museum in Berlin zu sehen. Es handelt sich um ein Doppelblatt aus einem Kodex, einer Vorform des heutigen Buches, von dem sich größere Teile von zwei Seiten und Reste von zwei weiteren Seiten erhalten haben. Da das Pergament sehr dünn ist, scheint die Schrift der jeweils anderen Seite durch. Anhand der Schrift und der Form der Buchstaben lässt sich das Pergamentblatt in das 5. Jh. n.Chr. datieren.
Auf dem Pergament haben sich Reste einer Tragödie des Euripides mit dem Titel „Die gefesselte Melanippe“ erhalten. Euripides, der ca. 480 v.Chr. auf der Insel Salamis geboren wurde, ist neben Aischylos und Sophokles der jüngste der drei großen Tragödiendichter des klassischen Griechenlands. Von seinen 90 Dramen blieben nur 18 erhalten. Viele davon sind nur sehr fragmentarisch durch Zitate bei anderen antiken Autoren und durch Papyrus- und Pergamentfetzen überliefert. Zu diesen zählen auch zwei Tragödien, die sich mit dem Mythos um Melanippe beschäftigen.
Melanippe war die Tochter des Aiolos, des Stammvaters der Aioler, die neben den Dorern und Ioniern zu den wichtigsten Stämmen des antiken Griechenlands gehörten. Sie hatte heimlich die Zwillinge Aiolos und Boiotos geboren, deren Vater Poseidon war. Sie versteckte sie im Stall bei den Kühen vor ihrem Vater. Doch dieser fand sie, hielt sie für Monster und wollte sie töten. Um ihre Kinder zu schützen, offenbarte sich Melanippe als deren Mutter. Daraufhin wurde sie von ihrem Vater eingesperrt. Die Kinder wurden ausgesetzt. Die kinderlose Theano, die Gattin des Königs Metapontos, fand sie und gab sie vor ihrem Mann als ihre eigenen Kinder aus. Als sie später dann zwei eigene Kinder bekam, wollte sie die anderen, inzwischen erwachsenen Zwillinge aus dem Weg schaffen. Doch der Plan misslang und Aiolos und Boiotos erfuhren dabei ihre wahre Herkunft und befreiten ihre Mutter.
In der Tragödie „Die weise Melanippe“ beschäftigt sich Euripides mit dem ersten Teil dieses Mythos und der Rettung der Zwillinge vor dem Vater. In der Tragödie „Die gefesselte Melanippe“, von der sich auf diesem Pergament Reste erhalten haben, geht es um die durch Theano geplante, aber gescheiterte Ermordung der Zwillinge und die Befreiung der Melanippe.
Im Text auf dem hier präsentierten Pergament berichtet ein Bote, der vom gescheiterten Mordversuch an den Zwillingen zu Theano zurückgekehrt war. Aiolos und Boiotos waren auf der Jagd, als sie plötzlich in einen Hinterhalt der Brüder der Theano gerieten und von diesen beschossen wurden. Die Zwillinge überlebten allerdings diesen Angriff und töteten die beiden Brüder der Theano, deren geflohener Diener nun davon berichtet.
Auf dem kleinen Rest der vierten Seite dieses Pergaments kann man eine Verzierung vor und unter einer Zeile erkennen. Dabei handelt es sich um eine Koronis, mit der das Ende dieser Tragödie gekennzeichnet wird.
Von dieser Tragödie gibt es bei anderen Schriftstellern, wie schon oben gesagt, Zitate. Auch auf dem Papyrus P 9772 in der Berliner Papyrussammlung hat sich ein längeres Zitat im Kontext einer Abhandlung zum Thema Ehe erhalten.