Ausgerechnet erbaulich: eine Anthologie aus dem Kleitorios-Archiv

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Zuerst eine Rechnung, dann geupcyclet als Schriftträger für eine Schreibübung: Dieses Ostrakon beinhaltet neben wenigen Spuren der verschollenen Rechnung eine „Anthologie“ mit drei kurzen Texten! Auf dem Ostrakon sind drei voneinander unabhängige Texte erkennbar: Erstens, ein Zitat aus dem brockenhaft überlieferten Werk Aigeus von Euripides, das wie eine moralische Sentenz wirkt; zweitens, ein Spruch über eine maßvolle Diät, der vielfach Sokrates zugeschrieben wird; und drittens, ein (abgehacktes) Zitat aus einem Werk der Neuen Komödie, in dem lauter Laster genannt werden.

Der erste Text umfasst Zeilen 1–2 und stammt aus dem verschollenen Aigeus des Euripides. Er lautet in Übersetzung: „Es kommt vor, dass derjenige, der Unglück erlitt, ἀρετή (Tugend, Trefflichkeit, …) vor dem Tode zeigt“. Wer aber genau hinschaut, erkennt, dass der Wortlaut an der Stelle weitergeht, und zwar bis in Z. 3 hinein: καὶ πάντα ῥαίδια / γίνεται, „und alles wird leicht“. In der Forschung herrscht aber Einigkeit darüber, dass dies ein Zusatz ist, der ursprünglich so bei Euripides nicht gestanden haben darf. In der aktuellen Ausgabe der Forscherin Francisca Pordomingo wird dieser Zusatz sogar weder mitgedruckt noch bei der Zeilenzählung berücksichtigt. Auf der anderen Seite könnte man darin eine sentenzhafte Abwandlung der euripideischen Quelle sehen, etwa in der Bedeutung, wer ἀρετή vor dem Tode zeigt, dem fällt das Sterben leichter, beziehungsweise (nach Viereck): „Auch wenn jemand gefehlt hat, so kann er doch durch einen edlen Tod den Beweis erbringen, dass er ein tüchtiger und guter Mensch war; dann findet man sich auch mit allem, was vorher Schlimmes geschehen ist, leicht ab und hält es für unwesentlich, d. h. es ist möglich, alle Fehler durch den Tod zu sühnen.“ (Diese Art von eher weitschweifiger Auslegung wird in der modernen Forschung jedoch vermieden.)

Der zweite Text ist ein vielfach überlieferter Spruch, der gleichzeitig eindeutig den Charakter eines philosophischen Dialogs hat. Er wird in der Überlieferung Sokrates vielfach zugeschrieben, wobei hier die Zuschreibung nicht explizit ist. Es geht hier um das angemessene Verhältnis zwischen Menschen und Essen. Hier spricht sich Sokrates für eine maßvolle Diät aus, die dem Leben förderlich ist, und rät von jener ab, „wie die meisten“ sie machen, die den Essgenuss gleichsam zum Ziel des Lebens erhebt: mit einem Wort, du sollst essen um des Lebens willen, und nicht leben um des Essens willen. Dies ist mit Abstand das älteste Zeugnis für den Spruch, der wohl ursprünglich einem Dialog über die richtige Lebensweise entstammt, wie etwa die in philosophischen Dialogen häufig vorkommenden Formulierungen καὶ γὰρ ὁρᾶις, „denn du siehst“ (was Pordomingo als „offensichtlich die Fortsetzung einer Folgerung des Philosophen“ beschreibt), und τά γε τοιαῦτα, „und solcherlei Dinge“, nahelegen. Der Text ist ein Beispiel für die literarische Gattung der „Logoi Socratici“, die Worte Sokrates‘, jenseits der bekannten Ausarbeitungen von Platon und Xenophon.

Zu guter Letzt haben wir es im dritten Text mit einem Ausschnitt aus einem Werk der Neuen Komödie zu tun (ab ~321 v. Chr.; der Hauptvertreter dieser Strömung ist Menander, wobei in diesem Fall keine sichere Zuschreibung zu einem Autor gemacht werden kann). Beide Verse sind unvollständig abgeschrieben: Der erste fängt nach dem Versanfang an, der zweite hört vor dem Versende auf. Menschliche Schwächen, die sich gerne zueinandergesellen, werden hier aufgelistet, genauer gesagt „Voreiligkeit, Fahrlässigkeit, Eitelkeit und tausende andere solche Dinge“.

Aber was sind Ostraka eigentlich? Ostraka sind beschriftete Tonscherben und waren lange in der Antike ein durchaus günstiges und reichlich vorhandenes Schreibmaterial für schnelle Notizen, Listen, Rechnungen und Schreibübungen: alles also, was heute auf einen Zettel kommt. Sobald die Liste oder Rechnung nicht länger aufbewahrt werden musste, konnte die Schrift abgeschabt oder -gewaschen und die Scherbe wiederverwendet werden, ein durchaus übliches Verfahren in einer Zeit, wo geeignete Schreibflächen keine Selbstverständlichkeit wie heute waren, wenngleich Tonscherben überall auf den Straßen von Städten und Dörfern gelegen haben dürften.

Gefunden wurde das Ostrakon in dem Ort Philadelphia, einer ptolemäischen Gründung, welche im oasenartigen Fayum-Becken südwestlich von Kairo gelegen ist. Es gehört zum „Kleitorios-Archiv“. Dieses Archiv besteht aus 68 Ostraka, die aus dem späten 3. bis frühen 2. Jhd. v. Chr. stammen. Außer insgesamt fünf Ostraka, welche einen literarischen oder pädagogischen Inhalt aufweisen, zu denen dieses zählt, und die irgendwie in einen Schulkontext einzuordnen sind, dokumentieren die Schriftfunde dieser Sammlung den Betrieb eines großen Anwesens. In denen geht es um Feldarbeiten, Lohnzahlungen, den Verkauf von Wein und Leinen, also um all die Geschäfte, die für ein solches Anwesen im wahrsten Sinne des Wortes das täglich Brot waren.

Um 1900 wurde in Philadelphia mehrmals ausgegraben, vor allem mit dem Ziel, Papyrusreste zu entdecken. Unter anderem ist der Ort für die sogenannten Zenon-Papyri bekannt, eine Sammlung von über 2.000 Dokumenten des Sekretärs Zenon von Kaunos (floruit um 240 v. Chr.). Ferner stammen die erst später entstandenen „Fayumporträts“, also Mumienporträts auf Holztafeln oder der Mumienumhüllung, aus dieser Gegend. Diese künstlerischen Kleinode entstanden aber erst in der römischen Kaiserzeit (1.–3. Jhd. n. Chr.).

Vier von den fünf erwähnten „pädagogischen“ oder „literarischen“ Ostraka im Kleitorios-Archiv sind sogenannte Anthologien. Aber was hat es damit auf sich? Das Abschreiben von als erbaulich erachteten Sentenzen war damals – und eigentlich auch durch die jüngere Geschichte, bis vor ein paar Jahrzehnten, hindurch – eine übliche Schulaufgabe. Das Ostrakon beinhaltet drei voneinander abhängige Verstexte, geschrieben jedoch ohne Verstrennung in einer damals üblichen scriptio continua (‚fortlaufendem Schreiben‘). Der Handschrift können wir entnehmen, dass hier kein Anfänger am Werk war: Diese wurde von Forschern als „fließend und regelmäßig mit einigen Kursivelementen“ (Cribriore) und womöglich als die eines γραμματικός, also eines Gelehrten oder, vielleicht, eines fortgeschrittenen Studenten (Pordomingo), bezeichnet worden.

Letztlich sollte durch eine Aufgabe wie diese das Schreiben geübt werden, dabei aber ging es auch darum, dass Werte wie Tugendhaftigkeit und Mäßigkeit – beim Essen sowie beim Handeln im Allgemeinen – hochgehalten und eingeschärft werden. Wieso die fünf genannten literarischen Ostraka der Sammlung ins sonst urkundliche Kleitorios-Archiv erst einbezogen wurden, muss letztlich ein Rätsel bleiben, eines der unzähligen kleinen Geheimnisse der Geschichte.

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