BGU III 953 (keine Inv.Nr.)
Wir haben bestimmt schon alle mal einen Einkaufszettel geschrieben. Den Wenigsten kommt dabei in den Sinn, dass dieser Zettel in mehreren Jahrtausenden gefunden und untersucht werden könnte. So ging es sicherlich auch Nikon, dem Verfasser dieser Kräuterbestellung. Leider ist die genaue Untersuchung des Papyrus‘, die sicherlich viele Informationen hervorbringen würde, nicht mehr möglich, da er bei einem Brand im Hamburger Hafen 1899 mit anderen Papyri verbrannte.
Das Stück wurde mit einigen anderen bei einer Ausgrabung gefunden, die im Auftrag der Generalverwaltung der königlichen Museen zu Berlin von Januar bis März 1899 mit Ulrich Wilcken und Heinrich Schaefer stattfand. Die Grabung wurde in Ehnâs-Herakleopolis durchgeführt, das sich westlich des Nils in Mittelägypten in der Nähe des heutigen Ehnasya el-Medina befand, 15 Kilometer westlich von Beni Suef. Ulrich Wilcken schrieb die Liste und einige andere Papyri noch vor Ort ab, wodurch zumindest deren Inhalt bekannt ist. Dennoch ist zu erwähnen, dass diese Abschriften von Wilcken mit dem Gedanken angefertigt wurden, er könne sie zu einem späteren Zeitpunkt (bei der näheren Auseinandersetzung mit den Stücken) verbessern, weshalb auch diese nicht ohne weiteres als perfekte Kopien der Inhalte der Schriften angesehen werden können.
Nach der Anfertigung dieser Abschriften wurden viele der Funde im Frühling 1899 auf ein Schiff geladen, dass die ca. 80 Schachteln mit Papyri (davon enthielten 2 Schachtel bereits 250 Lagen geglättete und in Pflanzenpapier gelegte Papyri) sicher in den Hamburger Hafen bringen sollte. Von dort aus plante man die Ladung zum größten Teil nach Berlin zu bringen. Leider brach kurz nach der Ankunft des Schiffes ein Feuer aus, in dessen Folge die gesamte Ladung verbrannte.
Dank Wilckens Abschrift ist bekannt, dass das Papyrus aus sechs Zeilen bestand. Die erste Zeile beschrieb wohl den Absender bzw. denjenigen, der bestellte, nämlich Nikon. Die folgenden fünf Zeilen bestanden aus jeweils einem Kraut sowie einer Mengenangabe, die sich rechts des Produktes befand und vollständig ausgeschrieben war. Zusätzlich zu der angefertigten Abschrift, datierte Wilcken das Stück auf das 3./4. Jh. n. Chr.
Wie wir heute Milch und Mehl in unterschiedlichen Maßeinheiten messen und meist auch so auf unsere Einkaufslisten schreiben, so bemerkt man auch auf der Bestellung des Nikon unterschiedliche Maße. In der zweiten Zeile der Liste wird das Maß von fünf Gewichtsstatere genutzt, was ca. 8g entspricht. Statere waren eigentlich Münzen, die aber neben der Nutzung als Zahlungsmittel auch als Gewicht zum Einsatz kamen. Da sich die Münzen an Gewicht über die Zeit verändert haben, jedoch nicht Statere als Maßeinheit, ist keine sichere Umrechnung in das heutige Gewicht mehr möglich. Neben dem Stater wird auch die Unze als Maßeinheit in der Bestellung genutzt. Diese Maßeinheit kommt in den Zeilen zwei, vier und sechs vor und entspricht jeweils ca. 30g. In der fünften Zeile wird die Maßeinheit der Obole genutzt.
Links der Maßeinheiten standen verschiedene Kräuter. Diese wurden von Andrea Jördens und Antonio Riccardetto wie folgt aus dem Griechischen übersetzt: In der zweiten Zeile der Liste wird von Malabathron bzw. Cinnamomum malabathrum, in der dritten wird von Costus bzw. Costus arabicus und in der vierten von Kassia bzw. Cinnamomum iners (eine Art von Zimt) geredet. In der fünften wird von Sesel gesprochen, welcher sowohl als Tordylium officinale als auch als Blupleurum Fruticosum („Hasenohr“) verstanden werden kann, wobei Andrea Jördens eher von der zweiten Bedeutung ausgeht. Dieses Kraut wurde nachweißlich, wie die anderen aus der Bestellung, damals aus dem Süd- und Osthandel bezogen. Zuletzt ist in der sechsten Zeile von Balsamhölzern die Rede.
Zwei der fünf Kräuter sind einfach als Heilkräuter identifizierbar, da es einige Rezepte für Heilmittel aus dem Zeitraum gibt. Zum einen das Costus arabicus, dessen Wurzel als vielseitiges Arzneimittel zum Beispiel als Mittel gegen „Klopfen“ (vermutlich Fieber) genutzt wurde.
Zum anderen kommt auch das Kraut Sesel bzw. Bupleurum fruticosum in einigen Rezepten vor. Es wird vermutet, dass es sich bei der vorliegenden Bestellung um Sesel handelt, der möglicherweise aus Nubien importiert wurde. Neben der Nutzung der Reisige des Sesels im Kultus, wurde es teilweise auch für Augenmittel, gegen Gebärmutterschmerzen, gegen Sonnenbrandflecken, zur Förderung der Menstruation und zu weiterem benutzt. Nachdem Jean-Claude Goyon das Blupeurum eingehend untersucht hatte, spricht er ihm aufgrund des Coniin-Gehalts eine schmerzlindernde und krampflösende Wirkung zu.
Die drei anderen Kräuter sind hingegen nicht unbedingt als Heilpflanzen bekannt. Jedoch lassen sich einige Erwähnungen und Beschreibungen mit zwei der drei Pflanzen in Verbindung bringen. So findet sich in einigen Texten ein Gewürz, das mit Kassia bzw. Zimt in Verbindung gebracht werden kann. Es wird zum Beispiel als Rohstoff benannt, der aus Punt (Somalia) importiert wird. Im Papyrus Ebers wird er als aussehend wie „Bohnen von Kreta“ beschrieben, was leider kaum bei einer Identifikation hilft. Dennoch werden in einigen Rezepten von Teilen der Pflanze, wie zum Beispiel von der Wurzel, dem Sägemehl bzw. Mehl und dem Holz gesprochen. Diese Teile können mit dem Zimtbaum in Verbindung gebracht werden. Die Pflanze wird verschieden angewandt. Das Holz wird beispielsweise genutzt um den Geruch von Kleidern oder den des Hauses angenehmer zu machen. Das „Sägemehl“ wird zur Belebung der Gefäße äußerlich mit anderen Zutaten angewandt. Und die Wurzeln werden als Kaumittel gegen Geschwüre an Zähnen und zur Wachstumsförderung des Zahnfleisches eingesetzt. Bei der Beschreibung über die Einbalsamierung der Verstorbenen ist wohl auch einmal von Zimt die Rede, der mit anderen wohlriechenden Kräutern die Leiche vorbereitet. Das Balsamholz, das in der sechsten und letzten Zeile der Bestellung Erwähnung findet, wird leider nicht näher präzisiert. Meist wird direkt von Balsam oder vom „Saft des Balsambaumes“ gesprochen, was eine Art Harzproduckt vermuten lässt. Das Balsamholz bzw. der Balsam wird bevorzugt in Mitteln für die Augen verwendet. Meist wird es in Kombination mit schwarzer Augenschminke (Gemisch mit Bleiglanz) und weiteren Mineralischen Stoffen verwendet.
Bei Malabathron lässt sich ein medizinischer Nutzen nicht ausschließen, konkrete Rezepte oder die Dokumentation einer konkreten Anwendung ist jedoch noch nicht bekannt.
Über den Wert der einzelnen Pflanzen im 3./4. Jh. n. Chr. lässt sich nichts Genaueres sagen, obwohl der Import der aufgelisteten Waren allein sicherlich seinen Preis hatte.
Die Kräuter auf der Liste sind zwar größtenteils einem medizinischen Nutzen zuzuordnen, ihre Menge und ihre unterschiedlichen Anwendungsbereiche weisen jedoch darauf hin, dass es sich hier tatsächlich ausschließlich um eine Bestellung und nicht um ein Rezept handelt. So lässt sich die Vermutung Wilckens verneinen, es handele sich möglicherweise um ein Rezept für ein Zaubermittel.
Die Bedeutung dieser einzelnen Liste scheint für heutige Verhältnisse vielleicht nicht sehr bedeutend. Doch birgt dieses Stück viele Fragen. Handelt es sich tatsächlich um eine Liste, und wenn ja für welchen Zweck? Wer war Nikon? Hatte er vielleicht ein neues Heilmittel erfunden? Erforschte er etwas Bestimmtes? Obwohl dieses Stück so viele Fragen aufwirft, ist es wertvoll. Denn es könnte uns in Verbindung mit anderen Listen und Rezepten einen Eindruck verschaffen, wie selten und kostbar einige Kräuter waren, welche Handelsbeziehungen für deren Beschaffung nötig waren und vielleicht auch wie sich ihre Bedeutung und ihr Wert über die Zeit verändert hat. So bildet dieses Stück einen weiteren kleinen Teil eines unendlichen Mosaiks aus Informationen über die Vergangenheit.