P. 6870 V + P. 14097 V
Wie klang die Musik in der Antike? Welche Melodien wurden gesungen? Darüber wissen wir nur sehr wenig. Denn auch in der Antike wurden Lieder meist mündlich weitergegeben oder nur der Text verschriftlicht, da die Melodie als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Trotz dieser schlechten Voraussetzungen haben sich Reste von Melodien erhalten. Ein solches Beispiel ist diese Zusammenstellung von Musikstücken mit Notenschrift (ein Hörprobe findet sich am Ende des Textes).
Sie wurde auf die Rückseite einer lateinischen Militärurkunde aus dem Jahr 156 n. Chr. geschrieben und umfasst die linke Hälfte einer Kolumne mit 23 Musikzeilen, die bis zu fünf verschiedenen Musikstücken zuzuordnen sind: bis zu drei von ihnen vokal mit über den Textsilben geschriebener Notation, die anderen zwei deutlich eingerückt sind rein instrumental.
Die ersten zwölf Zeilen enthalten einen in heutiger Tenorlage gesetzten und daher von Männern zu singenden Paian, d.h. einen feierlichen Chorgesang zu Ehren des Gottes Apollon, der üblicherweise von der Kithara, Apollons Instrument, und gelegentlich auch vom Aulos begleitet wurde. Das Instrumentalstück, das sich in den nächsten drei Zeilen anschließt, ist zwar musikalisch mit diesem eng verwandt, jedoch deutlich kürzer, so dass es sich wohl nicht um eine Instrumentalbegleitung des Paian, aber möglicherweise um ein Nachspiel handelt.
Auch die restlichen Musikzeilen dieses Papyrus könnten eng zusammengehören, da das zweite Instrumentalstück von den vermutlich zusammengehörenden vier Zeilen eines Chorgesangs vor ihm und einer Zeile nach ihm regelrecht eingerahmt wird. Man könnte also annehmen, dass es sich um ein instrumentales Zwischenspiel gehandelt haben könnte. Der Gesang weist mehrere deutliche Unterschiede zum Paian auf, dessen auffälligster ist, dass seine Vertonung im heutigen Sopranbereich liegt. Das Stück sollte also im Gegensatz zum Paian von Frauen gesungen werden. Das passt auch sehr gut zu seinem Inhalt, der dem Kontext des trojanischen Krieges zuzuordnen ist. Behandelt wird der Selbstmord des Aias aus Sicht seiner klagenden Frau Tekmessa. Aias hatte sich aus Scham über seine in Raserei vollzogenen Taten in sein eigenes Schwert gestürzt.
Diese Notationen erscheinen in zwei Arten: eine Vokalnotation für den Gesang und eine etwas ältere Instrumentalnotation. Erstere ist in ihrer Form an das auch heute noch verwendete griechische Alphabet angelehnt: Die Töne der Oktave f’–f werden mit den regulären Buchstaben dargestellt. Die Zeichen der Töne außerhalb dieser Oktave sind auf dem Kopf stehende griechische Buchstaben, einige wenige frei erfundene Zeichen oder mit kleinen Strichen versehene Buchstaben. Die Instrumentalnotation dagegen setzt sich aus den Buchstaben des älteren phönizischen Alphabets zusammen. Zwar werden auch in diesem System kleine Striche und einige wenige erfundene Zeichen zur Notation von Tönen außerhalb einer zentralen Doppeloktave a’–A genutzt, doch werden Tonerhöhungen u.ä. nicht durch andere Buchstaben, sondern durch Spiegelung oder Umlegung der entsprechenden regulären Buchstaben wiedergegeben. So lässt sich nahezu jedes Zeichen einer Note in unserem heutigen Notensystem zuordnen. Zu Notation des Rhythmus werden gelegentlich Punkte u.ä. zur Kennzeichnung von Längen und Kürzen verwendet. Bei der Vokalnotation galt im Grunde aber das Metrum des jeweiligen Textes.
Überblickt man nun die einzelnen Musikstücke, die auf diesem Papyrus erhalten sind, ergibt sich ein sehr uneinheitliches Bild. Der Paian und das Aias-Fragment haben inhaltlich keine Gemeinsamkeiten. Auch musikalisch weichen sie voneinander ab, während die Instrumentalstücke eng mit dem Paian verwandt sind. Der Zweck dieser Zusammenstellung von musikalischen Stücken auf diesem Papyrus lag also offensichtlich nicht im Text und seinem Inhalt, sondern vielmehr in der Musik. Die einzelnen Beispiele stammten möglicherweise aus einem musikalischen Handbuch und wurden hier aus einem nicht näher erkennbaren Grund zusammengestellt. Da sie auf die Rückseite eines nicht mehr gebrauchten Dokuments geschrieben wurden, könnte man beispielsweise an Notizen zu Übungszwecken denken. Auch eine Zusammenstellung einzelner Beispiele für eine theoretische Betrachtung der Musik lässt sich als Zweck nicht ausschließen.
Computergenerierte Hörproben aller Melodien auf diesem Papyrus finden sich auf Stefan Hagels Website „Ancient Greek Music“ unter der Rubrik „The Melodies“ (bitte nach PBerlin 6870 in der Tabelle weiter unten auf der Website suchen).
Das Prunkstück der Berliner Papyrussammlung mit Bezug zur antiken Musik war in der Sonderausstellung „Klangbilder – Musik im Alten Ägypten“ zu sehen.