Rätsel einer Multiplikationsübung

SB XXII 15312 (P. 11702)

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Eine seltsame Zeichnung, Multiplikationen und ein Vogel! All das findet sich auf einem Berliner Papyrus und gibt Rätsel auf. Was bedeutet das? In welchem Zusammenhang stehen diese Elemente zueinander? Was hat ein Vogel mit Mathematik zu tun? Wer hat sie aufgeschrieben?

Der Papyrus wurde im mittelägyptischen Eschmunen, dem antiken Hermupolis, erworben und kam im Jahr 1908 in die Berliner Papyrussammlung. Es ist wahrscheinlich, dass er auch aus Hermupolis stammt. Er ist auf beiden Seiten beschrieben. Allerdings sind keine Ränder erhalten, so dass der ursprüngliche Umfang des Textes nicht mehr sicher feststellbar ist. Aufgrund des Textinhaltes lässt sich vermuten, dass sich nur ein kleiner Teil des Papyrus erhalten hat. Erhalten haben sich auf beiden Seiten des Papyrus jeweils zwei Kolumnen in griechischer Sprache und daneben Zeichnungen, deren Zusammenhang mit dem Text zunächst unklar bleibt. Der Text lässt sich aufgrund der Schrift in das 5. Jahrhundert datieren. Zum Ende des Textes wird die Schrift immer eiliger, nachlässiger und unordentlicher. Auch die Abstände nehmen zunehmend ab und wirken unstrukturierter.

Bei dem Text handelt es sich um eine Multiplikationsübung, die uns aus Sicht des Schreibers das Funktionieren des Dezimalsystems zeigt. Dafür bediente sich der Schreiber dieser Übung der sogenannten milesischen Zahlzeichen. Dabei werden für die einzelnen Ziffern nicht eigene Symbole verwendet, wie es heutzutage getan wird, sondern die Buchstaben des griechischen Alphabets und einige wenige Sonderzeichen. Die Zehner und Hunderter erhielten jeweils eigene Buchstaben und Zeichen. So stand α für 1, β für 2 und ξ für 60. Zahlen, die größer als 9, aber keine Zehner oder Hunderter waren, wurden an die der Zahl am nächsten, kleineren Zehner, Hunderter, etc. die entsprechend gewünschten Einer angehängt. Die 63 wurde also ξ für 60 und γ für 3 geschrieben.

Die Multiplikationsaufgabe gliedert sich in mehrere Serien und Abschnitte, die teilweise durch horizontale Striche, sogenannte Paragraphoi, am Zeilenanfang gekennzeichnet sind. Erhalten haben sich Reste der Serien mit dem Faktor 2, 3, 4 und 5. Es ist anzunehmen, dass die ursprüngliche Liste bis zum Faktor 10 reichte. Die Serien unterteilen sich wiederum in einzelne Abschnitte, in denen der erste Faktor mit den Zahlen 1 bis 10 und dem zehnfachen, hundertfachen und tausendfachen Wert dieser Zahl multipliziert wird. Ein Eintrag hat folgendes Schema: δ ϡ Γχ (in unseren Ziffern: 4 900 3600, d.h. 4 x 900 = 3600). Die oben schon erwähnte Eiligkeit des Schreibers wird dadurch bekräftigt, dass der vorletzte erhaltene Eintrag (ε ϡ Δφ [in unseren Ziffern: 5 900 4500, d.h. 5 x 900 = 4500]) erkennbar korrigiert wurde.

Rechts neben der zweiten Kolumne auf dem Verso (Rückseite) befindet sich eine 6 cm hohe und 2,3 cm breite Zeichnung, welche weder ein Bestandteil eines Zierstreifens, noch mathematisch zu erklären ist. Diese bestehen aus zwei parallelen, senkrechten Striche, die zu beiden Seiten durch unregelmäßig gezackte Linien flankiert werden. Der Raum zwischen den Zacken ist mit Punkten sowie halbkreisartigen Tupfern gefüllt. Diese Zeichnung könnte die kartographische Darstellung der ägyptischen Ostwüste sein. Die parallelen Linien würden dann ein Wadi bzw. einen Weg anzeigen, die Zacken flankierende Hügel oder Berge demonstrieren. Die Zeichnung muss nach der Multiplikationsliste angefertigt worden sein, da sie diese teilweise überschreibt und die verwendete Tusche einen anderen Eisengehalt aufweist.

Auf dem Rekto (Vorderseite) ist unten links neben der Multiplikationsübung die Zeichnung eines Vogels zu erkennen, welcher mit erhobenen Flügeln frontal abgebildet ist. Über dem Vogel befindet sich ein kleiner Strich – ein Indiz für eine weitere, vorangegangene Kolumne oder Zeichnung. Die Zeichnung ist unsorgfältig ausgeführt worden und erschwert somit durch die grobe Stilisierung eine zoologische Einordung. Möglicherweise handelt es sich eine Taube oder einen Adler. Gegen eine Deutung als Taube spricht, dass sie in der Antike eher selten frontal und mit ausgebreiteten Schwingen dargestellt wird. Adler hingegen werden häufig so gezeigt und symbolisieren etwas Göttliches, wie z.B. die Wiederauferstehung Jesu Christi. Ob sich der Zeichnende dieser Motivtradition bewusst war, lässt sich nur vermuten, aber er müsste ihrer Bedeutung eigentlich bekannt sein. Der Stern über dem Kopf des Vogels könnte laut dieser Theorie auch ein Christogramm sein. Die Zeichnung des Vogels und die Multiplikationsliste sind vermutlich zeitgleich oder zeitnah angefertigt worden, da es keine messbaren Unterschiede zwischen den verwendeten Tuschen gibt.

Der Zusammenhang zwischen den beiden Zeichnungen und der Multiplikationsübung bleibt also unklar. Mathematische und kartographische Fähigkeiten waren in der Antike in der Verwaltung und beim Militär gefragt. Somit könnte dieser Papyrus eine Erinnerungsnotiz oder sogar ein Schmierblatt eines Auszubildenden in diesen Bereichen gewesen sein. Letztlich bleiben diese Mutmaßungen aber unsicher und dieser Papyrus auch weiterhin ein Rätsel.

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