FGrHist 533 F 2 (P. 11632)
Wer kann schon alle sieben Weltwunder aufzählen, geschweige denn sagen, wann und warum sie errichtet wurden? Bei dem Koloss von Rhodos kann uns ein Papyrus helfen, seine Entstehung zu verstehen.
Der Papyrus wurde im Dorf Mellawi gefunden. Mellawi liegt in Oberägypten, im antiken Verwaltungsbezirk Hermopolites. 1912 wurde das Stück durch Wilhelm Schubart, der damals Leiter der Papyrussammlung war, in Mittelägypten gemeinsam mit anderen Stücken angekauft. Der Papyrus enthält einen literarischen Text in griechischer Sprache, der in das 2. Jh. n.Chr. datiert wird. Im 2. Jh. n. Chr. war Ägypten unter römischer Herrschaft.
Der Text besteht aus 2 Kolumnen mit je 24 Zeilen. Er ist eine historische Prosa und im ionischen Dialekt geschrieben. Dies könnte daran liegen, dass dieser Dialekt für historische Schriften üblich war. Diese Gattungskonvention kommt daher, dass der erste griechische Historiker, Herodot, auf ionisch schrieb. Im Text geht es um eine Episode der Diadochenkriege. Nach dem Tod Alexanders des Große 323 v. Chr. stritten sich seine Anhänger, die Diadochen, um die Vorherrschaft. In den Konflikt wurde auch Rhodos hineingezogen, worüber in unserem Stück berichtet wird.
Die Insel Rhodos mit der gleichnamigen Stadt liegt vor der Küste Kleinasiens. Es gehörte ursprünglich zum persischen Großreich, geriet dann aber unter den Einfluss Alexanders. Nach Alexanders Tod versuchte die Insel unabhängig und neutral zu bleiben. Dies ging eine Zeitlang gut, dann unterwarf der Diadoche Antigonos aber ganz Kleinasien. Durch die räumliche Nähe war Rhodos gezwungen, ihm zu helfen. Antigonos forderte mehrmals von Rhodos Unterstützung. Als diese sich weigerten und auch eine Flotte des Antigonos zurückschlugen, schickte er seinen Sohn Demetrios Poliorketes 305 v. Chr. für eine Strafexpedition nach Rhodos. Der Name Poliorketes bedeutet sehr passend Städtebelagerer.
In der ersten Phase der Belagerung schlug er sein Lager vor den Stadtmauern auf und riegelte die Stadt von der Außenwelt ab. Demetrios versuchte dann, die Mauer zu durchbrechen. 304 v. Chr. konnte er den ersten Mauerring erobern. Die Rhodier hatten allerdings einen zweiten Ring, hinter den sie sich zurückziehen konnten. Als Demetrios dann die zweite Mauer durchbrach, hatten die Rhodier schon eine dritte gebaut.
Aber auch diese konnte Demetrios an einer Stelle durchbrechen. Bevor er die Stadt komplett erobert, brach er die Belagerung ab, weil er von Griechen zu Hilfe gegen Kassander gerufen wurde. Es wurde ein Friedensvertrag geschlossen. Die Rhodier dankten ihrem Schutzpatron, dem Sonnengott Helios, indem Sie am Hafen eine Kolossalstatue errichteten. Heute ist sie als Koloss von Rhodos als eines der sieben Weltwunder bekannt. Eines der sieben Weltwunder hat also eine Belagerung als Vorgeschichte.
Die Informationen über die Belagerung von Rhodos haben wir vor allem von Diodor, der im 1. Jh. v. Chr. ein Geschichtswerk schrieb. Aber auch unser Stück stellt eine Quelle dar. Weil unser Autor und Diodor so ähnliches schreiben, ist die Frage nun, ob unser Autor von Diodor abgeschrieben hat, oder beiden gemeinsame Quellen zugrunde liegen. Weil sie sich aber im Hinblick auf Terminologie unterscheiden, ist letzteres wahrscheinlicher.
Unser Stück behandelt nur Teile der Belagerung von Rhodos. Am Anfang geht vielleicht darum, dass die Rhodier ein Gewand erbeutet haben, was die Frau des Demetrios ihm schicken wollte. Es werden nämlich königliche Dinge erwähnt. Dann geht es darum, dass die Rhodier Gefangene nicht herausgeben wollen, obwohl Demetrios ihnen Lösegeld bietet. Daraufhin kündigt er an, zukünftig auch keine Rhodier mehr freizulassen. Als nächstes wird beschreiben, wie Demetrios versucht, die erste Mauer zu untergraben. Er besticht Athenagoras von Milet, der auf Seiten der Rhodier war, ihm zu helfen. Der verrät den Plan an die Rhodier. Die Rhodier fangen also an, den Feinden entgegenzugraben und Demetrios Plan misslingt. Außerdem übergibt Athenagoras den Rhodiern einen Gefolgsmann von Demetrios, Alexander. Athenagoras wird belohnt und Alexander im letzten Moment durch Lösegeld vor der Hinrichtung gerettet.
Das Besondere am Text ist, dass es sich um einen Autographen handelt, also um die Handschrift des Autors selbst. Dies erkennt man daran, dass der Text ein Entwurf ist. Immer wieder sind Wörter durchgestrichen, teils wegen grammatikalischer Fehler, teils, weil der Autor anderer Worte wählen wollte. Wir können also dem Autor sozusagen beim Arbeiten zuschauen. Autographen haben wir nur sehr selten erhalten. Eine weitere Besonderheit ist das Word μεταλλωρύχος. Es ist ein sog. Hapax legomenon. Das heißt, dass das Wort nur an einer einzigen Stelle belegt ist.
Der erste Herausgeber des Textes, von Gaertringen, schließt seinen Aufsatz mit: „Möchte nur der ägyptische Boden noch mehr solche Funde liefern!“.